„Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“

Hilda Maria Link

Geburtsdatum 25.5.1932
Geburtsort Bruggen
Todesdatum Winter 1941/1942
Todesort Ghetto Lodz oder Vernichtungslager Kulmhof

Anfang Jänner 1941 wurde in St. Pantaleon, einem Dorf im oberösterreichischen Innviertel, überstürzt ein „Arbeitserziehungslager“ geschlossen. Die exzessive Gewalt der SA-Männer gegen die Gefangenen wollte der Gemeinde- und Lagerarzt nicht länger hinnehmen, fünf Insassen hatten die SA-Männer bereits zu Tode malträtiert. Der Arzt erstattete Anzeige. Die Staatsanwaltschaft Ried begann tatsächlich zu ermitteln und erhob gegen die Lagerleitung und die Wachmannschaft Anklage wegen Totschlag und anderen Delikten. Das Verfahren wurde später zwar niedergeschlagen, hatte aber immerhin dem Lager ein Ende bereitet. (Viele Gefangene wurden allerdings in das KZ Mauthausen überstellt.)

Bei der Schließung blieb es nicht. Die Kriminalpolizeistelle Linz schritt gleich zur Neueröffnung, nun sollte es ein „Zigeuneranhaltelager“ werden. Schon zehn Tage später bewachte die neue Wachmannschaft dort mehr als 300 Roma und Sinti, überwiegend aus Oberösterreich. Sie mussten in Ställen auf Stroh hausen und wurden zu schweren Entwässerungsarbeiten in einem nahe gelegenen Moor gezwungen. Größeren Zuwachs erhielt die Zahl der Gefangenen am 11. April 1941. Die Kriminalpolizeistelle Linz wies an diesem Tag 52 Sinti ein, die von den Kärntner Kollegen gefasst und nach Oberösterreich geschickt worden waren.

Die Liste der Internierten ist erhalten geblieben. Ins Auge sticht, dass drei Familiennamen dominieren: Held, Seger und Link. Allein 14 der Eingewiesenen tragen den Namen Link, unter ihnen wiederum ist das achtjährige Mädchen Hilda Maria zu finden. Neben ihr sind weitere Kinder mit dem Namen Link aufgelistet, die an unterschiedlichen Orten in Kärnten, Niederösterreich und Bayern geboren wurden. Möglicherweise ein Hinweis darauf, welche Kreise Angehörige der Familie Link auf den Reisen in ihren Wohnwagen – die Sinti waren traditionell fahrende Händler (Pferde), Handwerker, Schauspieler und Musiker – gezogen haben.

Eine Station war bestimmt Bruggen bei Greifenburg, denn Hilda Maria Link kam in Bruggen, Hausnummer 10, zur Welt – so ist es im Geburtsbuch der Pfarre Waisach bei Greifenburg verzeichnet. Schon tags darauf erhielt sie das Sakrament der Taufe. Ihr Vater, Franz Link, war Musiker, gebürtig in Oberlienz. („Die Kärntner Sinti waren die allerbesten Musiker. Bis nach England sind sie gekommen zum Musizieren“, erinnerte sich Rosa Winter, eine Sinti aus Oberösterreich.) Hildas Mutter hieß Mathilde und stammte aus der Sinti-Familie Seger, etliche ihrer Verwandten lebten in den äußeren Bezirken Villachs, vor allem in Seebach. Viele der Villacher Sinti gingen in den 1930er Jahren nicht mehr auf „Fahrt“, sie waren sesshaft.

Manche Sinti hatten den Winter über einen festen Wohnsitz in Kärnten und begaben sich im Frühjahr und Sommer auf „Reise“, die schulpflichtigen Kinder blieben in Kärnten. Doch mit der „Fahrt“, dem Unterwegssein, dem Auf-der-Reise-Sein, dem „Herumzigeunern“, wie es im Volksmund der Sitzengebliebenen abfällig hieß, war es spätestens nach dem Sommer 1939 ganz vorbei, denn am 17. Oktober erließ der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, den sogenannten „Festschreibungserlass“. Damit war es „Zigeunern und Zigeunermischlingen“ bis auf weiteres untersagt, ihren augenblicklichen Wohn- und Aufenthaltsort zu verlassen. Die Kärntner Sinti, die sich auf „Fahrt“ befanden, saßen nun fest und waren ihrer traditionellen Lebensweise und ihrer Verdienstmöglichkeiten, im Falle von Franz Link der des Musizierens, beraubt. Roma und Sinti waren nun der Fürsorge jener Gemeinden zugewiesen, in denen sie sich gerade zufällig befanden – ganz zum Missfallen der lokalen Behörden, die lautstark dagegen protestierten. Es entstand sozusagen „von unten“ Druck, die „Zigeuner“ wegzuschaffen, eine „Lösung“ für das von den NS-Behörden selbst geschaffene „Problem“ zu finden.

Das NS-Regime betrachtete Roma und Sinti als „Angehörige artfremder Rassen“. „Artfremden Blutes“, hieß es in einem Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen vom 15. September 1935, „sind in Europa regelmäßig nur die Juden und Zigeuner.“ Zudem wurden sie im Deutschen Reich schon als „gemeinschaftsgefährdendes Lumpenproletariat“ verfolgt. Im Zuge der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ konnten Personen in Deutschland bereits 1937 in Konzentrationslager eingeliefert werden, wenn sie aufgrund ihrer Abstammung oder aufgrund ihrer Lebensform von den Behörden als „Zigeuner“ definiert wurden.

Mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen bot sich die Gelegenheit, neben den Juden auch die etwa 30.000 „Zigeuner“ loszuwerden. Die Idee, sie außerhalb des Reiches zu verfrachten, also wegzuschaffen, gab es schon länger. Voraussetzung dafür war erstens die Erfassung der Weggewünschten – was die österreichischen Behörden mit einer „Zigeunerkartothek“ schon ab 1921 geleistet hatten, die nun von den Nationalsozialisten genutzt werden konnte – sowie zweitens ihre Konzentration in Lagern. Die Kriminalpolizeileitstellen schritten zur Tat und richteten entsprechende Sammellager ein, etwa in Lackenbach (Burgenland) oder eben in Weyer, wie eingangs dargestellt. Bereits bestehende Anhaltelager wie jenes in Salzburg-Maxglan wurden zu „Arbeitslagern“ ausgebaut – so, wie es der Schnellbrief übergeordneter NS-Behörden mit dem Titel „Bekämpfung der Zigeunerplage in der Ostmark“ vom Oktober 1940 verlangte. Die Kriminalpolizei nahm die in den Dörfern festgesetzten Roma und Sinti gefangen und lieferte sie in diese Lager ein.

Über die Lebensbedingungen und die Behandlung der Internierten im Lager von Weyer ist wenig bekannt. Erhalten geblieben sind einige Fotografien, denn der Gemeindearzt von St. Pantaleon war passionierter Fotograf, und einige der Bilder, die er im Lager angefertigt hat, kann man auf der Internetseite der Erinnerungsstätte Lager Weyer/Innviertel betrachten. Fest steht, dass die Männer bei der Entwässerung des Moors arbeiten mussten und die Frauen und Kinder den Bauern der Umgebung bei der Ernte zu helfen hatten. Nicht nur die sanitären Einrichtungen dürften völlig unzureichend gewesen sein: „Es ist mithin davon auszugehen, dass den Betroffenen ärztliche Hilfe verweigert wurde. Die von der Lagerleitung angegebenen Todesursachen (Lebensschwäche oder Herzkollaps bei Kindern bis hin zur Herzfleischentartung (!) bei Frauen) sprechen für sich“, schrieb der Schriftsteller Ludwig Laher, der das Lager erforscht hat. Auffallend ist das geringe Alter der Internierten: Das Durchschnittsalter der 345 Insassen betrug 19,4 Jahre.

Die Entscheidung zur Deportation der österreichischen Roma und Sinti nach Polen fiel – nach einigen Verzögerungen, die dem Chaos geschuldet waren, das die Nationalsozialisten durch ihre völkischen Umsiedlungen und Deportationen in Polen angerichtet hatten – schließlich am 1. Oktober 1941. Im November wurde das Zigeuneranhaltelager in Weyer folglich aufgelöst, die überlebenden 301 Häftlinge wurden – wie Ludwig Laher schreibt – „nur spärlich bekleidet, in Bürmoos in Viehwaggons verladen und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt im burgenländischen Lackenbach ins Zigeunerghetto Lodz transportiert, von wo keines der Opfer lebend zurückgekehrt ist.“

Was geschah in Lodz?
 

Im Winter 1941 sollten 20.000 Juden und Jüdinnen und 5.000 „Zigeuner“ im Ghetto untergebracht werden. Dagegen protestierte der deutsche Oberbürgermeister der polnischen Stadt, weil er unhaltbare Zustände voraussah. Doch ging es ihm nicht um das Wohl der Ankömmlinge. In Lodz jedenfalls sorgte man nicht etwa dafür, dass sie adäquat untergebracht oder ernährt werden könnten. Worauf man Wert legte, war die Trennung des Ghettos in ein jüdisches und eines für „Zigeuner“. 5.000 Roma und Sinti aus dem ehemaligen Österreich wurden sodann in einen katastrophalen Zustand gebracht – auf engstem Raum zusammengepfercht, ohne hygienische Einrichtungen oder auch nur grundlegende Verpflegung. Die unterernährten Körper reagierten rasch – sie wurden krank. Fleckfieber brach aus, und nach zwei Monaten waren bereits 613 Menschen tot.

Unterdessen hatte das Reichssicherheitshauptamt im Schloss der Stadt Chelmno (Kulmhof) ein Lager errichtet, nicht etwa um Juden oder „Zigeuner“ zur Arbeit zu zwingen oder gefangen zu halten, sondern um sie geradewegs und möglichst umstandslos zu vernichten. Zu diesem Zweck wurden drei Lastwagen zu Gaswagen präpariert und in das Lager gebracht. Die Tötungsexperimente begannen am 7. Dezember 1941. Die ersten Opfer waren Juden aus den Gemeinden der Umgebung. Die Täter zwängten sie in die Lastwagen, verschlossen und verriegelten die Türen und stellten den Motor an. Innerhalb weniger Minuten erstickten die Opfer im Gas. So wurden – als Auftakt zur millionenfachen fabriksmäßigen Vernichtung von Menschen – auch all jene Sinti und Roma aus Österreich ermordet, die die Seuchen in Lodz überlebt hatten. Die Leichen wurden in einem Wald verscharrt und später in Öfen verbrannt.

Niemand der 5007 von Lackenbach nach Lodz deportierten Sinti und Roma überlebte, niemand von ihnen konnte über diese vollendete Katastrophe aus Menschenhand, in der Sprache der Roma und Sinti „Porajmos“ (das Verschlingen) genannt, Zeugnis ablegen. Faktum zum Tod der Einzelnen ist einzig, dass sie nie mehr aufgetaucht sind, so auch nicht Franz und Mathilda Link und ihre Tochter Hilda Maria. Eine Kette von ineinandergreifenden „Maßnahmen“ vom österreichischen Dorf bis zum Ende in Lodz und Chelmno, stufenweise radikalisiert, kennzeichnet den Massenmord an den österreichischen Sinti und Roma.

Nachsatz: Jene Roma und Sinti, die das „Porajmos“ überlebt hatten, wurden in der Zweiten Republik weiter geächtet. Bis 1988 hatten sie große Schwierigkeiten, ihre Ansprüche bei der Opferfürsorge durchzusetzen, erst dann wurden die „Zigeunerlager“ als „KZ-ähnliche“ Lager anerkannt. Einer der wenigen, die sich schon unmittelbar nach 1945 bemüht haben, die Verfolgung der Sinti und Roma auf Grundlage von Zeugenaussagen zu dokumentieren, war der aus Dellach stammende Mauthausen-Überlebende und KPÖ-Funktionär Josef Nischelwitzer. Seine Versuche, den Klagenfurter Kriminalinspektor Karl Malle wegen dessen Beteiligung an der Deportation der Kärntner Sinti vor Gericht zu bringen, schlugen fehl. Die Anzeige gegen den weiter im Amt befindlichen Kriminalinspektor wurde niedergeschlagen und damit auch jegliche öffentliche Diskussion über die Ermordung der Kärntner Sinti. Karl Malle wurde im Jahre 1950 zum Leiter der Kriminalpolizei Klagenfurt ernannt.

Siehe auch Josefine Blach

Anmerkunge zum nebenstehenden Foto: Es sind Mädchen im Lager Weyer abgebildet, deren Namen wir nicht kennen. 

Quellen

Geburtsbuch der Pfarre Waisach, tom. VII, fol. 180, Zl. 8/1932, Archiv der Diözese Gurk; Zigeuneranhaltelager Weyer, Verzeichnis über jene Zigeuner, die am 11.4.1941 von Kärnten eingewiesen wurden, Kopie im Besitz des Autors; Liste der im Zigeuneranhaltelager Weyer Internierten (beides dankenswerterweise übermittelt von Ludwig Laher), auch DÖW 51412; Tagebuch des ehem. Zigeunerlagers Lackenbach, DÖW 11.340; Schreiben von Ludwig Laher an P.P., 23.3.2006 u. 26.3.2006; Sinti in Villach. Geächtet – Verfolgt – Ermordet, www.net4you.net/erinnern/namen/sinti.html; Internetseite der Gedenkstätte Lager Weyer/Innviertel.

Literatur

Ludwig Laher: Herzfleischentartung, Innsbruck 2001; Ludwig Laher: Das Arbeitserziehungs- und Zigeuneranhaltelager St.Pantaleon-Weyer. Ergänzung einer Ortschronik, reachme.at/lager.weyer; Ludwig Laher: Rede anlässlich der Wiedereröffnung des Denkmals der Namen, www.net4you.net/erinnern/texte/ludwiglaher.html; Historikerkommission (Hg.): Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti, Wien 2002; Florian Freund: Geschichte der Verfolgung der österreichischen Roma und Sinti 1938-1945, www.doew.at; Gernot Haupt: Sinti und Roma – geächtet – verfolgt – ermordet. Über den Genozid an den Sinti und Roma in Europa während des Nationalsozialismus, Referat am 21.11.2005, Musil Haus Klagenfurt; Michael Zimmermann: Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, in: Ulrich Herbert (Hg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik, Frankfurt/Main 1998, 235-262; Israel Gutman (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust, Band I, München 1998; Die Roma in Österreich, Infoblatt der Servicestelle für politische Bildung, Nr. 4, 12/2004; Hans Haider: Abschied von Helene Weiss – die „Sidonie“ von Klagenfurt, in: schulheft, 2006/1.